Eine deutsche Nomenphrase kann recht umfangreich sein – und ist auch durchschnittlich verhältnismäßig umfangreich; einer auf einem 10.000 Belege umfassenden pressesprachlichen Korpus basierenden, 2010 erhobenen Untersuchung zufolge (Leonard Pon: Nominalphrase in der deutschen Pressesprache von heute) hat die NP einen durchschnittlichen Umfang von 3.4 Wörtern. Wenn man bedenkt, wie viele Nomenphrasen aus nur einem oder zwei Wörtern bestehen (in der Untersuchung: 58%), ist das beeindruckend.
In der Spanne zwischen 4 und 18 Wörtern verteilen sich die entsprechend umfangreichen Nominalphrasen im Material zahlenmäßig wie folgt:
Die Komplexität erklärt sich durch Attribute, die selbst Nomenphrasen mit Attributen, die selbst… enthalten können – links sowie rechts vom Kern, oder Kopf, der NP, der stets ein Nomen ist.
Linksattribute bilden das Thema der Wochen 9 und 10 ("Relativsatzwertige Adjektivphrasen"). Rechtsattribute, die keine Relativsätze sind, stehen ab jetzt, Woche 5, auf der Agenda.
Um einigermaßen komplexe Nomenphrasen überhaupt erst zu verstehen, und erst recht, wenn wir sie sinngemäß und idiomatisch ins Norwegische übersetzen wollen, müssen wir sie analysieren, also zerlegen und die inneren Bezüge erkennen. Da fangen wir immer am besten mit dem Auffinden des Kopfnomens an.
Um erst an einem Beispiel zu veranschaulichen, wie viel von einer Textpassage mit Nomenphrasen (rot markiert) belegt sein kann – und es häufig auch ist:
An der Klinischen Abteilung für Kardiologie von AKH Wien und MedUni Wien wurden seit März 2020, dem Beginn der Corona-Pandemie in Österreich, einerseits ein Rückgang der PatientInnenzahl mit akutem Herzinfarkt um 26 Prozent und andererseits eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus festgestellt… […]
"Das verspätete Eintreffen im Krankenhaus nach Auftreten der ersten Beschwerden führt dazu, dass der Verschluss des Herzkranzgefäßes technisch schwieriger zu behandeln ist, da sich in dem verschlossenen Gefäß mit der Zeit zunehmend feste Gerinnsel bilden", erklärt Christian Hengstenberg, Leiter der Kardiologie, und er stellt klar: "Je länger das Herzkranzgefäß verschlossen ist, desto größer ist die Gefahr für eine dauerhafte Schädigung des Herzens."
Durchschnittslänge hier? 6.3.
Nehmen wir die längste, 16 Wörter zählende NP unter die Lupe.
(1) eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus
Kopfnomen? Es gibt keine mechanische Vorgehensweise, um das zu bestimmen, aber fast immer, wenn zuerst ein Artikel oder allgemeiner ein Bestimmungswort steht, wird es das Nomen sein, zu dem dieses Wort gehört – und so ist es in der Tat "Verlängerung".
Wollen wir für das Kopfnomen einen besonderen Farbcode einführen?
(2) eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus
Sonst werden Farbcodes schnell problematisch, weil Attribute selbst Nomenphrasen mit Attributen enthalten können, und eine Farbe für das Großattribut dessen innere Struktur verschleiern würde.
Adjektive können wir aber mit Vorteil mit einer Farbe belegen – etwa so:
(3) eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus
Und Nomen, die nicht das Kopfnomen sind, können wir mit einer dritten Farbe belegen:
(4) eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus
Das besagt jedoch noch nichts über die Struktur – darüber hinaus, dass "Verlängerung" als Kopfnomen kein Teil eines Attributs ist. Dafür brauchen wir strukturierende Werkzeuge, wie Schachteln, Bäume oder Klammern. Diese können auch annotiert, oder etikettiert, werden, und dann werden wir die verschiedenen Phrasen nicht nur identifiziert, sondern auch kategorisiert haben.
Wir wollen dies schrittweise tun. Top-down oder Bottom-up? Beides hat Vorteile. Hier eine Klammer, die sozusagen in die Mitte der Hierarchie greift:
(5) eine signifikante Verlängerung der Zeit zwischen [ erstmaligem Auftreten der Beschwerden und dem Eintreffen im Krankenhaus ]
Unmittelbar nach einer Präposition können wir mit dem Anfang einer NP rechnen. Und die PP erstreckt sich bis zum Ende der nach "und" anfangenden NP.
In zwei weiteren Schritten markieren wir Anfang und Ende des größten und der beiden kleinsten der nachgestellten Attribute:
(6) eine signifikante Verlängerung [ der Zeit zwischen [ erstmaligem Auftreten [ der Beschwerden ] und dem Eintreffen [ im Krankenhaus ]]]
Es bleibt, auch die "zwischen"-PP, die beiden mit "und" koordinierten NPen sowie die Gesamt-NP zu umrahmen und sämtliche so umrahmten Phrasen mit Kategorien-Labels zu versehen:
(7) [NP eine signifikante Verlängerung [NP der Zeit [PP zwischen [NP [NP erstmaligem Auftreten [NP der Beschwerden ]] und [NP dem Eintreffen [PP im Krankenhaus ]]]]]]
Auf einen Baum abgebildet sieht das so aus:
Und noch ist das unvollständig, oder richtiger gesagt nicht richtig, da Attribute zu Nomen stehen, nicht zu Nomenphrasen mit Bestimmungswörtern wie Artikeln. (Strenggenommen ist unsere Terminologie etwas daneben: eine Phrase mit Artikel oder sonstigem Bestimmungswort wird eigentlich nicht als eine NP, sondern als eine DP bezeichnet, mit D für Determinierer oder Determinativ, wobei die Bezeichnung NP Phrasen wie "signifikante Verlängerung…", "erstmaligem Auftreten…" oder "Eintreffen im Krankenhaus" vorbehalten bleibt; vgl. Kontrastive Syntax Fußnote 25, S. 69.) Die vollständige und richtige Struktur:
(8) [NP [D eine ] [N [N [A signifikante ] [N Verlängerung ]] [NP [D der ] [N [N Zeit ] [PP [P zwischen ] [NP [NP [N [N [A erstmaligem ] [N Auftreten ]] [NP [D der ] [N Beschwerden ]]]] und [NP [D dem ] [N [N Eintreffen ] [PP [P i- ] [NP [D -m ] [N Krankenhaus ]]]]]]]]]]]
Und der Baum:
Dadurch vervollständigt sich die Analyse. Die Struktur ist im großen und ganzen, bis auf die symmetrische "und"-Koordination, rechtsverzweigend – diese Attribute sind eben durchgeführt nachgestellt und dazu verschachtelt. Das wird sich ändern, wenn wir uns in einigen Wochen relativsatzwertigen Adjektivphrasen – sog. erweiterten Partizipattributen – zuwenden. Die sind vorangestellt und erzeugen linksverzweigende Strukturen.
Verschachtelt – engl. «nested» – heißt, dass eine Phrase eine gleichartige Phrase enthält. Dies entsteht im Nachattributbereich durch diese Regeln:
N → N PP
N → N NPG
PP → P NP
NP → D N
Verstehen können wir das so: Ein Nomen kann eine PP oder auch eine NP im Genitiv als Attribut haben – dann bilden die beiden zusammen ein mehrteiliges Nomen, das wiederum solche Attribute haben kann. Eine PP oder eine NP im Genitiv nun kann, sie muss sogar, selbst ein Nomen enthalten, das wieder eine PP oder eine NP im Genitiv als Attribut haben kann – usw., im Prinzip ad infinitum.
Eine an und für sich strukturerhaltende, norwegische grammatische Regeln gerade noch respektierende Übersetzung wird sich von einer idiomatischen ziemlich stark unterscheiden. Der Inhalt wird im Norwegischen einfach anders – ja, einfacher – verbalisiert werden – und ja, eben verbaler. Mehr dazu in den Seminaren.